Tausende Verfahren auf Halde: Die Justiz kämpft mit dem Rückstand der Pandemiezeit
Drei Jahre nach den Hochphasen der Corona-Pandemie wirkt die Krise in den deutschen Gerichten immer noch nach. Was als temporäre Einschränkung begann, hat sich vielerorts zu einem strukturellen Rückstau entwickelt: nicht verhandelte Zivilsachen, offene Berufungen, eingestellte Strafverfahren – teils aus Mangel an Kapazitäten, teils aus organisatorischen Gründen.
Im Jahr 2025 zeigt sich, wie schwer es ist, den Rückstand aufzuholen. Verfahren, die seit 2020 liegen, wurden teils mehrfach vertagt oder verschoben. Die Folge: Aktenberge, unzufriedene Parteien – und ein Justizsystem am Rand der Belastungsgrenze.
Zahlen, die aufhorchen lassen
Laut aktuellen Erhebungen des Deutschen Richterbundes haben sich in vielen Bundesländern die Verfahrenslaufzeiten im Vergleich zu 2019 um bis zu 40 Prozent verlängert. Besonders betroffen sind die Amts- und Landgerichte in Großstädten wie Berlin, München, Köln und Hamburg. Auch Verwaltungs- und Familiengerichte melden erheblichen Rückstau.
Der Grund: Zwischen 2020 und 2022 wurden Verfahren pandemiebedingt verschoben, ausgesetzt oder wegen fehlender Präsenzmöglichkeiten vorerst nicht bearbeitet. Doch während die Altverfahren weiterlaufen, steigt der Eingang neuer Klagen – nicht zuletzt durch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Spätfolgen der Pandemie.
Welche Verfahren besonders betroffen sind
Am stärksten zeigen sich die Rückstände in diesen Bereichen:
- Zivilverfahren mit mehreren Beteiligten oder komplexem Beweisprogramm
- Familiensachen mit laufenden Umgangs- oder Sorgerechtsregelungen
- Bußgeldverfahren, die wegen Zeitablauf eingestellt werden mussten
- Strafverfahren mit Nebenklagen, die nicht verhandelt werden konnten
- Wirtschaftsverfahren mit internationalen Beteiligungen
Gleichzeitig fehlen vielerorts die personellen Kapazitäten, um die Altlasten aufzuarbeiten – siehe Artikel 1 zum Personalmangel.
Was bisher getan wurde – und wo es noch hakt
Einige Bundesländer haben kurzfristig zusätzliche Richterstellen geschaffen – etwa Nordrhein-Westfalen mit seinem Sonderprogramm „Verfahrensbeschleunigung 2023–2025“. Auch Digitalisierung sollte helfen, Akten schneller zu bearbeiten. Doch strukturell sind diese Maßnahmen bislang unzureichend.
Kritisch: Die Priorisierung nach „Dringlichkeit“ benachteiligt Verfahren ohne unmittelbare existenzielle Auswirkungen – etwa mietrechtliche Streitigkeiten, verjährungsrelevante Forderungen oder Aufklärungspflichten.
Wie die Justiz den Rückstand aufholen könnte
Reformvorschläge liegen auf dem Tisch:
- Temporäre Taskforces zur Abarbeitung von Altfällen
- Verstärkter Einsatz digitaler Verfahren wie Videoverhandlungen und Online-Erörterungen
- Vereinfachung prozessualer Abläufe (z. B. Reduktion mündlicher Verhandlungen, Einführung von Opt-out-Regelungen)
- Vermehrte Berufung von befristeten Assessoren zur Verfahrensentlastung
Der Deutsche Richterbund spricht sich zudem für eine „Rückstandsprämie“ aus – Gerichte mit überdurchschnittlich langer Verfahrensdauer sollen befristete Unterstützung erhalten.
Redaktionstipps für Verbraucher
Wenn Sie betroffen sind:
- Achten Sie auf Fristen – insbesondere Verjährungen!
- Bitten Sie um schriftliche Zwischenmitteilungen bei Inaktivität.
- Sprechen Sie mit Ihrer Anwältin oder Ihrem Anwalt über Erinnerungen oder Beschleunigungsanträge.
- Bei Familien- oder Arbeitssachen: Dokumentieren Sie jeden Fortschritt – er kann entscheidend sein.
Wenn du weitere Fragen zum Thema hast, kannst du gerne unser Kontaktformular nutzen:
FAQ-Bereich
Warum funktioniert das beA so oft nicht zuverlässig?
Die Infrastruktur ist fehleranfällig, Updates führen teils zu Kompatibilitätsproblemen, und Supportstrukturen sind nicht ausreichend etabliert.
Was passiert, wenn eine Frist wegen beA-Störung versäumt wird?
Grundsätzlich bleibt die Frist bestehen. In Einzelfällen kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt werden – mit Nachweis der technischen Störung.
Warum ist die elektronische Akte noch nicht überall eingeführt?
Die Umsetzung ist föderal organisiert, jedes Land setzt eigene IT-Lösungen um, was Zeit kostet und technische Hürden schafft.
Was können Anwälte bei technischen Problemen tun?
Technische Probleme müssen dokumentiert werden, möglichst mit Screenshots, und sollten dem Gericht unverzüglich mitgeteilt werden.
Wann ist mit vollständiger Digitalisierung der Gerichte zu rechnen?
Derzeit ist die Einführung der E-Akte bis Ende 2026 geplant, doch Verzögerungen sind aufgrund der Komplexität nicht ausgeschlossen.
„Die Digitalisierung darf in der Justiz kein Lippenbekenntnis bleiben. Wenn Bürger und Anwälte auf Technik vertrauen sollen, muss diese funktionieren – zuverlässig, sicher und flächendeckend. Die Justiz darf nicht zum digitalen Entwicklungsland werden.“
– RA Björn Wilhelm Kasper